Die Kluft zwischen Arbeitgebervorstellungen und Bewerberinterpretationen

Die Kluft zwischen Arbeitgebervorstellungen und Bewerberinterpretationen

Summary:

Ein Wunschzettel ist kein Bekommzettel. Was für Weihnachten gilt, darf auch auf Stellenanzeigen übertragen werden. Aber nur zu einem gewissen Grad.

Ein guter Bekannter von mir ist auf viele Bewerber nicht gut zu sprechen. Als leitender Angestellter für IT-Sicherheitssysteme ist er an den Auswahlprozessen für neue Mitarbeitende aktiv beteiligt. Seine Firma installiert die Systeme bundesweit bei den Kundenfimen. Es folgt der Logik dieser Consulting-Jobs, dass man auch bundesweit einsetzbar sein sollte. Dies formuliert mein Bekannter im Aufgabenblock der Stellenausschreibungen auch wortwörtlich so. Und „damit es die Dümmsten kapieren“, ergänzt er, steht unter der Überschrift „Bewerberprofil“ auch noch: 100 % Reisebereitschaft. Im Vorstellungsgespräch sitzen ihm dann Personen gegenüber, die das aber so gar nicht wollen. „Ich könnte sie an die Wand klatschen“, sagte mir mein Bekannter in einem Gespräch beim Bier. In der Absage formuliert es freilich anders.

Sinnvolle Schnittmenge: 70 bis 80 Prozent

Mit der Bewerberseite bin ich täglich konfrontiert. Die Frage, zu wieviel Prozent man ein Stellenprofil erfüllen müsse, kommt in nahezu allen Jobcoachings vor. Meine vorsichtige Antwort lautet: 70 bis 80 Prozent – wobei es aber auf die Gewichtigung der einzelnen Bestandteile ankommt. Wenn zum Beispiel im Anforderungsprofil für einen LKW-Fahrer fünf Punkte stehen, darunter der LKW-Führerschein, ist ein Bewerbungserfolg natürlich trotzdem unwahrscheinlich, auch wenn einem nur diese eine Voraussetzung fehlt und man so mathematisch betrachtet 80 % des Arbeitgeberwunsches erfüllt.

Um herauszufinden, ob die fehlenden Voraussetzungen ein Bewerbungskiller sein könnten, sollte sich die interessierte Person intensiv in die Aufgabe und die Firma hineindenken. Wenn man sich zutraut, die Lücken innerhalb der Probezeit zu schließen, sollte man sich bewerben.

Die Berücksichtigung dieser Faustregel hat bei einigen meiner Klientinnen schon mehrfach zu erfolgreichen Bewerbungen geführt:

  • Die Produktmanagerin aus der Mode-Branche, die in die Accessoire-Branche wechselte, obwohl ihr gewünschte Branchenerfahrung fehlte
  • die Bodenspezialistin, die in einer Mineralölfirma angestellt war und nun bei einer Behörde Genehmigungsverfahren betreut, obwohl sie nur wenig Wissen zu einschlägigen Rechtsvorschriften hatte
  • die Anlagenbuchhalterin, die zwar das beschriebene Aufgabengebiet voll und ganz beherrschte, aber nicht dem Wunschprofil des Arbeitgeber entsprach. Er wünschte einen Hochschulabschluss der BWL. Die Bewerberin war aber Autodidaktin – und ungelernt.

Eine kleiner Schnittmenge funktioniert nur unter Umständen

Natürlich ist auch die 70-80-Prozent-Regel nicht in Beton gegossen. Letzlich entscheidet die Firma, ob vorhandene Lücken aus ihrer Sicht überwindbar sind oder nicht. Wenn in einem Stellenangebot von einer umfassenden Einarbeitung die Rede ist, oder ausdrücklich Quer- bzw. Neueinsteiger zur Bewerbung animiert werden, darf die Erfahrungs- oder Wissenslücke auch etwas größer sein. Im Zweifelsfall empfehle ich: anrufen und nachfragen.

Und wenn man dann zu dem Schluss kommt, dass die Schnittmenge für eine Bewerbung zu gering ist, erscheint es sinnvoller, nach einer Stelle zu suchen, bei der die Schnittmenge größer ist.

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Günter Flott
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